Was Bücher uns nicht erzählen

Ein Text von Guadalupe Cazares Bustamante

Ungefähr 23 europäische Länder entsprechen dem mexikanischen Staatsgebiet. Auf den ersten Blick scheint, dass wohnen in einem so großen Land eine großartige Sache ist. Vor allem, weil Mexiko für seine freundlichen und gastfreundlichen Menschen, seine vielfältige Flora und Fauna und sein abwechslungsreiches Klima bekannt ist: Wüste, Dschungel, Berge und Meer. Paradoxerweise gibt es trotz all dieser Vielfalt nicht viel Vielfalt, wir haben alle dieselbe Sprache, Kultur und Religion. Deshalb waren Bücher und Zeitschriften lange Zeit mein Fenster zur Welt des Lebens auf der anderen Seite der Welt oder wie wir in Mexiko sagen, auf der anderen Seite der „Pfütze“. In Geschichtsbüchern habe ich gelernt, wie die Spanier Amerika eroberten, über die Entwicklung des Zweiten Weltkriegs, die Geschichte der Chinesischen Mauer und viele andere Dinge. In den gebrauchten „Hallo“-Magazinen, die meine Mutter auf dem Markt kaufte, lernte ich König Juan Carlos von Spanien kennen, auch Rania, die schöne und moderne Königin von Jordanien, das Fürstentum Monaco, und viel mehr. National Geographic zeigte mir in seinen Bildern wunderschöne Naturlandschaften auf der ganzen Welt, aber auch die Lebensweise anderer Länder, ihre verschiedenen Religionen, von buddhistischen Mönchen bis zu Muslimen, die in Moscheen beten. Unterschiedliche Trachten, vor allem Frauen mit Turban auf dem Kopf.

Als ich als Aupair in Deutschland landete, hatte ich die Idee, es war eine einmalige Gelegenheit, eine andere Kultur, und Sprache zu lernen und ein bisschen von all dem kennenlernen, was ich in Büchern und Zeitschriften gesehen hatte. Doch keine Magazine oder Buch konnte mich auf das vorbereiten, was ich hier wirklich erleben würde.

Deutschland, es war nicht so, wie es in den Büchern stand. Das erste Mal Köln zu betreten war ein Schock, hier wohnten nicht nur große, blonde und blauäugige Menschen. Hier gab es alle möglichen Formen, Größen und Farben von Menschen, als ich in den Zug stieg, hörte ich Sprachen, die ich noch nie gehört hatte. Plötzlich waren da Mönche, die vor dem Dom Fotos machten, Frauen mit Turban auf dem Kopf, und auf der anderen Seite waren Frauen, die von Kopf bis Fuß bedeckt waren, aber daneben ging eine Frau ohne BH, und als ich mich nach links drehte, war da eine Gruppe von Leuten, die etwas spielten, das wie afrikanische Rhythmen klang. Es war, als wären die Fotos von den Hallo- und National-Geographic-Magazinen plötzlich, an einem Ort, einem „Deutschland-Heftchen“, real geworden.
 
Kein Buch oder Magazin konnte mir die Geschichten erzählen, die ich hier erleben würde. Geschichten, die von Krieg und Flucht gekennzeichnet sind. Liebende die Meilen zurückgelegt haben, um der anderen Seelenhälfte bis ans Ende ihres Lebens zu folgen…

Andere sind hierhergekommen, um zu arbeiten, aus Neugier oder einfach auf der Suche nach sich selbst. Natürlich ist die Vielfalt nicht nur rosig. Es ist auch möglich, Menschen zu treffen, die unzufrieden, traurig, verwirrt und unglücklich sind hier zu sein. Obwohl es schön ist, in Vielfalt zu leben, ist es nicht immer einfach sich in einer riesigen Bücherei zurechtzufinden. Erst recht, wenn die Bücherei aus faktisch mehr als 80 Millionen Menschen besteht.

Und inmitten dieser Collage, 9.495 Kilometer von meiner Heimat entfernt, entdeckte ich mich selbst. Ich entdeckte den Reichtum Mexikanerin zu sein. Während meiner Zeit hier habe ich gelernt, mich selbst mit anderen Augen zu sehen. Z. B. neugierig zu sein auf sich selbst.
In keiner Zeitschrift und in keinem Geschichtsbuch wurde jemals der Multikulturalismus in Deutschland erwähnt. Niemand sagte mir, dass das Land, in dem eines Tages ein Mann die „perfekte Rasse“ durchsetzen wollte, ein Mekka der Vielfalt ist. 

 
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